Gutes Geschrei
Das Kirchenjahr durchläuft auf rituelle Weise alle Gefühle und Erfahrungen, die ein Mensch auf seinem Lebensweg machen wird. Nach den schweren und dunklen Texten und Melodien der Passionszeit eröffnen sich Ostern neue Klangwelten. Wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen, bewahren sie uns in der Seele.
Die Namen der Sonntage zwischen Ostern und Himmelfahrt geben den Grundton vor: Christ ist erstanden! Die Gemeinde fühlt sich wie neugeboren und folgt ihrem Guten Hirten mit Jubel, Gesang und Gebet. Zwischen Jubilate (jubelt!) und Rogate (betet!) steht dieser Sonntag Kantate (singt!). So freue ich mich auf das Singen und Hören der Musik. Unsere Kantorei hat geübt, ein Solo-Trompeter wird zum Orgelklang meisterhaft die Osterbotschaft ohne Worte verkündigen.
In der Epistel aus dem Kolosserbrief lesen wir: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. “ Das Wort Christi nennt Martin Luther Evangelium. Einmal deutete er es als „Gutes Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“ Als er seine persönlichen Glaubenserfahrungen in Liedform komponierte, wählte er die Gattung eines schwungvollen, rhythmisch gestalteten Bänkelliedes. Damit war das evangelische Kirchenlied erfunden.
Wenn wir 500 Jahre später diese Gedanken nachlesen wirken sie vielleicht antiquiert. Indem wir solche Lieder selbst singen verändert sich alles. Wir reflektieren nicht den Inhalt, sondern lassen uns einfach darauf ein. Singend sprechen wir fremde Worte selbst aus. Indem wir auf vorgegebene Melodie und Rhythmus bewusst den Text sprechen, haben wir einen Schatz in uns. Wenn eine geistlose Computerstimme solch einen Text vortragen würde, wären betonte und unbetonte Silben gleich gewichtet. Durch Üben wird es gelingen, das Wichtige zu betonen und Unwichtiges wegzulassen. So wird daraus eine lebendige Sprache, die zugleich nach innen wirkt und nach außen.
Man kann lehren und ermahnen, wie es im Kolosserbrief heißt. Wichtiger ist es, singend den Sonntag Kantate zu feiern. Auch wenn man nicht so perfekt singen kann kommt doch heraus ein „Gutes Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“ Die frohe Botschaft erfüllt Ohren und Stimme, Herz und Verstand.